Lektorat Juttas Schreiblabor

Es soll mir zur Warnung dienen, ich will künftig nichts mehr drucken lassen, ohne es wie jener große französische Dichter* meiner Köchin vorzulesen. (Georg Christoph Lichtenberg, , Sudelbücher, http://sudelbuecher.com/f/881)*

Der Schachtelsatz entspringt verschiedenen Quellen – bei den Gelehrten ist es Verachtung vor dem Leser, bei anderen die Zuchtlosigkeit des Denkens. (Ludwig Reiners, Stilkunst, 1991, S.
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Einfaches Schreiben

Auch beim wissenschaftlichen Schreiben wird mittlerweile auf eine allgemeinverständliche, einfache Sprache geachtet. Dabei kann sich der Autor selbst einbringen und von etwas erzählen statt über etwas zu schreiben, konkret statt abstrakt sein, zeigen statt dozieren.

Wie abstrakt wissenschaftliches Schreiben klingt, sehen Sie an dem folgenden Text (an Sätzen wie diesem wurde PISA-Erhebung 2000 die Lesekompetenz fünfzehnjähriger Schüler und Schülerinnen gemessen; da sei die Frage erlaubt, wie es mit der Schreibkompetenz des Autors aussieht):

Die Futtersucher geben den anderen Bienen zu verstehen, wo die Nektarquelle ist, indem sie einen Tanz aufführen, der Informationen darüber gibt, in welche Richtung und wie weit die Bienen fliegen müssen. Während dieses Tanzes läuft die Biene in Kreisen, die die Form einer 8 bilden, und schwänzelt dabei mit ihrem Hinterleib hin und her. (…) Wenn der Mittelteil der 8 direkt nach oben zeigt, bedeutet dies, dass die Bienen die Nahrung finden, wenn sie direkt in Richtung Sonne fliegen. Wenn der Mittelteil der 8 nach rechts zeigt, befindet sich die Nahrung rechts von der Sonne. (fachdidaktik-einecke.de/4_Literaturdidaktik/html_FK_zu_Pisa/pisa_aufgaben.html)
Vergleichen Sie den Text mit einem Auszug aus Das Festnetz der Bienen aus Spektrum der Wissenschaft, einem des populärwissenschaftlichen Schreibens unverdächtigen Wissenschaftsmagazins:
Erfolgreiche Sammlerinnen teilen dort ihren umstehenden Nestgenossinnen tanzend die Lage der entdeckten Futterquelle mit. Der österreichische Zoologe Karl von Frisch (…) hatte in den 1940er Jahren erkannt, dass die Information über die Lage sich in zeitlich-räumlichen Aufbau der Tanzfiguren versteckt. Ganz besonders gilt das für den so genannten Schwänzeltanz: eine Figur in Form einer Acht, bei der die Biene das Mittelstück durch ein auffälliges rasantes Schwänzeln hervorhebt. Die Zeitspanne für diese Schwänzelstrecke korreliert mit der Entfernung der Futterquelle – und die Körperrichtung beim Schwänzeln zeigt indirekt die einzuschlagende Flugrichtung gegenüber der Sonne an. (S. 91)
Auch Alfred Brehm gab seine Tierbeobachtungen wie zum Beispiel über den Nacktfußbartgeier (Gypaëtus nudipes) so spannend wieder, dass er viele Leser erreichte. Denn, so Ludwig Reiners: „Wie entscheidend ist es für einen Stil, ob der Verfasser etwas Besonderes zu beobachten und auszudrücken weiß!“ (Stilkunst, 2004, S.
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Wenn man (…) einen glaubwürdigen spanischen Jäger fragt, was der Bartgeier fresse, wird er sicherlich keine Jagd-, Spuk-, Raub- und Mordgeschichten wie der Schweizer von seinem Geieradler zum besten geben, sondern einfach sagen, der "Knochenzerbrecher" (Quebranta-huesos) frisst Aas, Kaninchen, Hasen und noch andere kleine Säugethiere, hauptsächlich aber Knochen, welche er zerbricht, indem er sie aus bedeutender Höhe herab zur Tiefe fallen lässt. Kein einziger Spanier, mit welchem wir in jagdlicher oder wissenschaftlicher Hinsicht verkehrt haben, kannte den Bartgeier als berüchtigten Räuberhauptmann wie der Schweizer den seinigen. Man wusste mir, als ich nach dem Vogel fragte, welcher Ziegen und Schafe, Kinder und Hunde raube und fresse, niemals den Geieradler, sondern immer nur den Steinadler zu nennen. Von diesem, aber auch bloss von ihm, hatte man ebenso viele Geschichten zu erzählen wie unsere deutschen Naturforscher von dem Geieradler der Alpen. Im ganzen wird der Bartgeier als sehr unschuldiger Vogel betrachtet. Kein Hirt fürchtet ihn, kein Viehbesitzer weiss etwas von Räubereien, welche er ausgeführt haben soll, aber jedermann versichert, dass er regelmässig mit den Geiern auf das Aas falle und, wie bemerkt, Knochen aus der Höhe herabwerfe, um sie zu zerbrechen. (Brehms Thierleben, 1882, S.
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Über zwei Literaturnobelpreisträger und einen König der Wüste

Dem Historiker Theodor Mommsen und dem Politiker Winston Churchill wurde mit gutem Grund der Nobelpreis für Literatur verliehen: weil sie verständlich schrieben.


Als Beispiel sei Mommsens Anfang seiner Römischen Geschichte angeführt:
Rings um das mannigfaltig gegliederte Binnenmeer, das tief einschneidend in die Erdfeste den größten Busen des Ozeans bildet und, bald durch Inseln oder vorspringende Landfesten verengt, bald wieder sich in beträchtlicher Breite ausdehnend, die drei Teile der Alten Welt scheidet und verbindet, siedelten in alten Zeiten Völkerstämme sich an, welche, ethnographisch und sprachgeschichtlich betrachtet, verschiedenen Rassen angehörig, historisch ein Ganzes ausmachen. (http://gutenberg.spiegel.de/buch/104/3)
Er hätte auch ganz akademisch beginnen können: „In der vorliegenden Arbeit werde ich …“ usw. usf. Tausendmal gelesen …

In einer Besprechung wurde das Werk als „ganz schlechter Zeitungsstil“ abgewertet. „Man war zu sehr an das ehrwürdige Pathos früherer Geschichtswerke gewöhnt“ (Heinrich von Sybel und die Historische Zeitschrift, 1936, S. 66). Doch „gerade das Leitartikelbenzin lässt die Sätze hämmern und rasen“, so heißt es in einer Kurzbeschreibung auf Amazon.de.

Auch der Anfang von T. E. Lawrences Die Sieben Säulen der Weisheit zeigt, das Geschichtsbücher durchaus unterhaltsam geschrieben sein können:
Mancherlei Abstoßendes in dem, was ich zu erzählen habe, mag durch die Verhältnisse bedingt gewesen sein. Jahre hindurch lebten wir, aufeinander angewiesen, in der nackten Wüste unter einem mitleidlosen Himmel. Tagsüber brachte die brennende Sonne unser Blut in Gärung und der peitschende Wind verwirrte unsere Sinne. Des Nachts durchnäßte uns der Tau, und das Schweigen unzähliger Sterne ließ uns erschauernd unsere Winzigkeit fühlen. Wir waren eine ganz auf uns selbst gestellte Truppe, ohne Geschlossenheit oder Schulung, der Freiheit zugeschworen. Mit der Zeit wurde unser Drang, für das Ideal zu kämpfen, zu einer blinden Besessenheit, die mit verhängtem Zügel über unsere Zweifel hinwegstürmte. Er wurde zu einem Glauben, ob wir wollten oder nicht. Wir hatten uns in seine Sklaverei verkauft, hatten uns zu einem Kettentrupp aneinandergeschmiedet. Durch eigenen Willensakt hatten wir Moral, Selbstbestimmung, Verantwortung von uns getan, daß wir waren wie dürre Blätter im Wind. (List: 150 Jahre buchhändlerischer Tradition, 1964, S. 266)
1927 schrieb George Bernard Shaw dazu in einem Essay für das Magazin World’s Work:
Zufällig gehörte zu Lawrence’ Genie auch literarisches Genie; und seine unerträgliche Gewissenhaftigkeit zwang ihn, das Buch zu schreiben, um die Wahrheit möglichst von den Legenden und Lügen zu unterscheiden. (...) Er schrieb seine Geschichte, und als sie verloren ging, ob nun gestohlen oder verlegt, schrieb er sie neu. (…) Es war eine gewaltige Aufgabe, und das Ergebnis war ein Meisterwerk der Literatur.
Now it happened that Lawrence's genius included literary genius; and that his maddeningly intense conscientiousness obliged him to write the book in order that the truth might be disentangled from the legends and lies (…) He wrote the history, and, when it got lost, stolen or strayed, rewrote it (…). It was a prodigious task; and the result was a masterpiece of literature. (S.
637)
Und Churchill verkündete den Engländern in seiner berühmten Antrittsrede als Premierminister vor dem britischen Unterhaus am 13. Mai 1940 anlässlich der Mobilmachung nicht Lebensgefahr, Leid und Anstrengung, sondern „blood, toil, tears, and sweat“ – Blut, Mühsal, Tränen, Schweiß –, denn er wusste, dass kurze Wörter am eindringlichsten sind und am meisten berühren: „Grob gesagt, sind die kurzen Wörter die besten, und alten Wörter die allerbesten“ (Broadly speaking, the short words are the best, and the old words best of all). (Rede bei der Verleihung des Sunday Times Book Prize am 2. 11. 1949,
http://www.notable-quotes.com/c/churchill_sir_winston_ii.html)

Seinen Nobelpreis verdankt er aber auch dem Buch Der zweite Weltkrieg. Auf S.
56 schreibt er zum Beispiel:
Im Hotel Regina stellte sich ein Herr einem meiner Mitreisenden vor. Es war „Putzi“ Hanfstaengl, er sprach viel über „den Führer“, mit dem er offenbar in sehr engen Beziehungen stand. Da er ein lebhafter und gesprächiger Bursche zu sein schien und vortrefflich Englisch sprach, lud ich ihn zum Essen ein. Er erzählte höchst interessant über die Tätigkeit und die Pläne Hitlers. Er redete wie ein Behexter. Wahrscheinlich hatte man ihm die Weisung gegeben, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Offensichtlich gab er sich die größte Mühe, mir einen guten Eindruck zu machen. Nach dem Essen ging er ans Klavier und spielte und sang eine Reihe von Liedern und Melodien so bemerkenswert schön, daß wir alle die größte Freude hatten. Er schien alle englischen Weisen zu kennen, die ich gerne hörte. Er war ein trefflicher Gesellschafter, und er war damals, wie man jetzt weiß, ein Günstling des „Führers“. Er erklärte mir, ich müßte ihn kennenlernen und nichts wäre leichter, als das in die Wege zu leiten. Hitler kam jeden Tag gegen 17 Uhr in das Hotel und er würde sich sicherlich sehr freuen, mich zu sehen.
Nebenbei: „Getretener Quark / Wird breit, nicht stark“, sagt Goethe im West-östlichen Diwan: Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie umfasst 53 und Mendels Versuche über Pflanzen-Hybride 44 Seiten.

* Gemeint ist Molières Köchin Martine, der er seine Komödien vorlas, um zu erproben, ob seine Ausdrucksweise klar ist.
** Natürlich schreiben Sie keine Schachtelsätze wie Kant im Handschriftlichen Nachlass:
Wenn eine Luft viel elasticitaet hat, so ist die qvantitaet der substantz nicht aus dieser elasticitaet, sondern aus der inertia, mit welcher sie der ausbreitung derselben oder auch ieder Kraft, die [sie] ihre Masse bewegt, wiedersteht, zu messen (S. 680)
Die Transkription aus der Fraktur und die Digitalisierung des Bandes der Preussischen Akademie der Wissenschaften habe ich vorgenommen, was bei den vielen Schreibweisen wahrlich nicht einfach war, siehe http://knb.mpiwg-berlin.mpg.de/kant/info.

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